Tuesday, April 15, 2008

Der ästhetische Imperativ I, Klangwelt

Kleiner, bemerkenswerter Auszug:

Nach dem Exodus des Ohrs in die äußere Welt dreht sich alles um die Kunst des Wiederanknüpfens an das zerrissene Band der ersten Hörigkeit [Anm.: im Mutterleib]. Aber was in dieser ein unüberbietbar inniges und gänzlich singularisiertes Verhältnis war, kann später nur in der Klangöffentlichkeit der Kulturgruppe wiederaufgenommen werden. Für diese Wende ins Öffentliche und Kulturelle gilt dir Regel, daß in Freiheit wiederkehren soll, was in der Verzauberung begann. Was wir die Völker nennen und später die >>Gesellschaften<<, sind immer auch sonore Konstrukte - ich beschreibe sie anderswo als die Phonotope -, die auf jeweils eigene Weise die Aufgabe lösen, die Ohren ihrer Angehörigen in eine gemeinsame Geräusch- und Klangwelt einzubetten. Diese bieten ihren Mitgliedern durch die Mittel des öffentlichen Hörens Substitute für das verlorene Paradies intimen Vernehmens an. Auf diese Weise läßt sich der Heimat-Effekt deuten - denn mit dem Wort >>Heimat<< evoziert man vor allem eine akustische Disposition, was die obsessive Liaison zwischen Ohr, Gemeinschaft und Landschaft ins Spiel bringt. Zu Recht wurde von Musiktheoretikern der letzten Generation das Routinehören des lokalisierten und vergesellschafteten Ohrs als Befangenheit in einer ortstypischen Klang-Landschaft alias soundscape gedeutet. Zu Unrecht wollte man diesen sound-Umgebungen eine direkte musikalische Bedeutung zusprechen, zu Unrecht, weil die alltäglichen sonoren Milieus allenfalls semi-musikalische Qualitäten aufweisen, indessen authentische Musik erst beginnt, wo das bloße Soundhören aufhört. Man kann sich hiervon überzeugen, wenn man beobachtet, wie die moderne Musikindustrie, als reine Soundindustrie, unter dem Vorwand der Volksmusik die Pest überträgt und unter dem Vorwand der Popmusik Epidemien provoziert, die man nur als akustische Gegenstücke zur Spanischen Grippe würdigen könnte - und gegen die gibt es, wie man weiß, bis heute nicht die Spur eines effektiven Medikaments.

Geben wir diese Feststellungen zu, so begreifen wir unmittelbar, wieso der Weg zur Musik untrennbar ist von der Wiedergewinnung der Individualität und Intimität des Hörens. Diese Restitution kann, wie bemerkt, nur auf dem Umweg über öffentliche Klangereignisse und auf der Höhe der technischen Mittel geschehen. In diesem Sinne läßt sich sagen, daß Teilhabe an Zivilisation bedeutet: unterwegs zu sein zur individuierten Musik. Mit dieser Aussage wird eine Ahnung geweckt von dem Ausmaß des Abenteuers, auf das die Komponisten und Musiker der europäischen Neuzeit sich einließen, als sie sich aufmachten, die neuen Länder hörbarer Gestalten zu entdecken.

(Quelle: 'Der ästhetische Imperativ', Peter Sloterdijk)

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